Wie (un-)sicher sind die belgischen Kernkraftwerke Tihange und Doel tatsächlich? Mit dieser wichtigen Frage befassen sich seit einigen Wochen wieder besorgte Bürger, Umweltverbände, Sicherheitsexperten und Politiker in Belgien, den Niederlanden und nicht zuletzt auch in Deutschland. Überall regt sich heftiger Widerstand gegen die Entscheidung der belgischen atomrechtlichen Aufsichtsbehörde Federal Agency for Nuclear Control (FANC) von November 2015, die beiden Atommeiler Tihange 2 und Doel 3 wieder anzufahren. Zu Recht.
In der belgisch-deutschen Grenzregion Antwerpen-Lüttich-Aachen – 150 bzw. 70 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt – wurden 1975 die beiden Kernkraftwerke Tihange und Doel in Betrieb genommen. Alle sieben Reaktoren befinden sich derzeit am Netz, drei davon sind seit 40 Jahren aktiv. Seither gab es an beiden Standorten eine Serie von Zwischenfällen und Sicherheitspannen, die vor allem in Deutschland massive Zweifel an der Sicherheit der beiden Kernkraftwerke aufkommen ließen.
Die beiden umstrittensten Atommeiler Tihange 2 und Doel 3 sind in den Medien mittlerweile als Pannenmeiler bekannt. Bereits im Jahr 2012 wurden bei Ultraschalluntersuchungen jeweils an den beiden kernnahen Schmiederingen der Reaktordruckbehälter mehrere Tausend Anzeigen gefunden. Diese wurden vom Betreiber der Kernkraftanlagen, Electrabel, auf wasserstoffinduzierte Risse, sog. Wasserstoffflocken, zurückgeführt, die bereits bei der Herstellung der Schmiederinge entstanden seien. Beide Meiler wurden daraufhin für fast ein Jahr abgeschaltet. Die belgische Atomaufsichtsbehörde teilte nach einer Prüfung lapidar mit, dass es sich dabei um ein Problem handele, das keine Gefahr für die Sicherheit der nuklearen Anlagen darstelle. Die beiden Meiler wurden anschließend wieder in Betrieb genommen, im März 2014 jedoch erneut aufgrund massiver Sicherheitsbedenken stillgelegt.
2014 wurden erneut Ultraschalluntersuchungen mit optimierten Parametern an den Reaktordruckbehältern durchgeführt. Ein Vergleich der Prüfergebnisse von 2012 und 2014 zeigte kein Risswachstum. Dennoch wurden deutlich mehr kleine und im Mittel größere Anzeigen festgestellt. So haben die jüngsten Ultraschalluntersuchungen für den oberen bzw. unteren kernnahen Ring des Reaktordruckbehälters von Doel 3 etwa 1.400 bzw. 12.000 Anzeigen mit mittleren Ausdehnungen von etwa 12 bis 16mm ergeben. Für Tihange 2 ergaben sich für den oberen bzw. unteren Ring etwa 3.000 bzw. 100 Anzeigen mit ähnlichen mittleren Ausdehnungen. Maximale Ausdehnungen ergaben sich durch Überlagerung von mehreren, nahe beieinander liegenden Anzeigen. Die größten Werte sind im unteren Ring von Doel 3 mit etwa 70mm in axialer und 180mm in Umfangsrichtung bestimmt worden.
Trotz dieser massiven Sicherheitsmängel gestattete die belgische Atomaufsicht das Wiederanfahren der beiden Reaktoren. Die Inbetriebnahme erfolgte Mitte Dezember des vergangenen Jahres, begleitet von massiven öffentlichen Protesten. Seither wurden drei weitere Störfälle bekannt: ein Brand im nicht-nuklearen Bereich des Reaktors 1 des Kernkraftwerks Tihange im Dezember 2015, ein Defekt an einem der Generatoren im nicht-nuklearen Bereich des Reaktors Doel 3 ebenfalls im Dezember 2015 sowie ein Schaden an einer großen Turbine im nicht-nuklearen Bereich der Anlage Doel 1 Anfang dieses Jahres. Der Betreiber der Kernkraftanlagen, Electrabel, beschwichtigte und teilte mit, dass es sich bei den Vorfällen um nichts Unnormales handele, die Ereignisse auch keine Auswirkungen auf die Sicherheit der Anlagen hätten.
Detlef Seif MdB, zeigte sich entsetzt und besorgt zugleich: „Die Informationspolitik der belgischen Atomaufsicht ist katastrophal. Die Begründung, dass es sich bei den Rissen um ein Problem handele, das auf das Schmieden der Stahlringe der Behälter zurückzuführen sei, trägt nicht zur Beruhigung der Betroffenen bei. Die belgischen Behörden haben bislang nicht dargelegt, weshalb nun keine Sicherheitsbedenken mehr bestehen sollen. Der Betreiber Electrabel, aber auch die belgische Regierung, bleibt uns allen hier bis heute eine Antwort schuldig. Die neuerlichen Störfälle belegen aber, dass die Mindestsicherheitsstandards der beiden Anlagen nach wie vor nicht gewährleistet sind.“
Da die Entscheidung über das Anfahren und Stilllegen der beiden Reaktorblöcke rechtlich in die ausschließliche Zuständigkeit der belgischen Behörden fällt, ist Detlef Seif MdB auf politischer Ebene aktiv und macht politische Entscheidungsträger auf das Sicherheitsproblem aufmerksam. So hat er sich Ende November 2015 gemeinsam mit seinen Kollegen Helmut Brand MdB, Rudolf Henke MdB, Thomas Rachel MdB und Winfried Oellers MdB mit einem gemeinsamen Schreiben sowohl an die belgische Ministerin für Energie, Umwelt und nachhaltige Entwicklung, Marie Christine Marghem, als auch an die deutsche Bundesumweltministerin, Dr. Barbara Hendricks MdB, gewandt. Mit den Schreiben wiesen sie auf die Gefahren für die deutsche und belgische Bevölkerung hin, die sich aus dem Wiederanfahren der beiden defekten Reaktoren ergeben, und forderten nachdrücklich deren unverzügliche Stilllegung.
Detlef Seif MdB hat auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel angeschrieben und sie gebeten, sich um die sofortige Stilllegung der beiden Reaktoren zu bemühen. Während der belgische Innenminister Jan Jambon die Kritik an der Sicherheit der beiden Meiler zurückwies und feststellte, dass die Sicherheitssysteme der Kraftwerke nach eingehender Prüfung seitens der FANC funktionierten, der weitere Betrieb der Anlagen daher kein Problem darstelle, teilte das Bundeskanzleramt mit, dass die Bundesregierung die Vorgänge in Belgien sehr ernst nehme. Man sei mit der belgischen Regierung bereits auf verschiedenen Ebenen im Gespräch und setze den Dialog auf politischer Ebene fort.
Mit der Sicherheit der beiden Atommeiler befasste sich kürzlich auch der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages. Ein Vertreter des Bundesumweltministeriums zeigte sich besorgt, ob die erforderliche Reaktorsicherheit der Anlagen in vollem Umfang gewährleistet sei. Nach Auffassung des Bundesumweltministeriums stellen die in den Reaktordruckbehältern der beiden Atomkraftwerke gefundenen Wasserstoffflocken eine „signifikante Abweichung von der geforderten Fertigungsqualität“ dar. Hierdurch würden, so das BMUB weiter, bestehende Sicherheitsmargen signifikant reduziert. Aus deutscher Sicht sei fraglich, inwieweit dies mit den grundlegenden Anforderungen an die Sicherheit von Atomkraftwerken vereinbar sei.
Detlef Seif MdB mahnt an, die Risse in den Reaktordruckbehältern insbesondere deshalb ernster zu nehmen, weil sie zu einer unerwarteten Brüchigkeit des Behältermaterials führen können. So sei das Risiko gegeben, dass im Falle einer störfallbedingten Kühlung der Reaktoren mit kaltem Wasser die Mantelung breche und radioaktives Wasser austrete. Ein Horrorszenario für Mensch und Natur.
Das Ministerium suche im Rahmen europäischer und multilateraler Gremien den Austausch mit der belgischen Regierung. So habe man sich im Rahmen eines internationalen Arbeitstreffens in Brüssel am 11. und 12. Januar, an dem auch Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen, der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS) mbH und der Materialprüfanstalt Stuttgart (MPA) teilnahmen, von der FANC zunächst die Prüfungsunterlagen für die beiden Meiler erläutern lassen. Hier seien im Nachgang noch einige sicherheitstechnische Fragen offen geblieben, um deren schriftliche Beantwortung das Bundesministerium die FANC gebeten habe. Eine Antwort stehe noch aus. Zudem wurde jetzt auch vereinbart, demnächst eine deutsch-belgische Arbeitsgruppe zur nuklearen Sicherheit einzusetzen, um die Kooperation hinsichtlich der Reaktorsicherheit zu verbessern.
Die Städteregion Aachen erhob nun Anfang Februar Klage gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors Tihange 2 vor dem Council of State in Belgien (Staatsrat). Darüber hinaus prüft sie derzeit weitere rechtliche Schritte gegen Tihange 2. Das Klageverfahren erfährt großen Zuspruch seitens der regionsangehörigen Kommunen inklusive der Stadt Aachen, daneben auch bei den Kreisen Düren, Euskirchen, Heinsberg, Bitburg-Prüm, Vulkaneifel sowie den niederländischen Kommunen Gulpen-Wittem, Heerlen, Kerkrade und Maastricht. Interesse an einer Zusammenarbeit in der Angelegenheit signalisierten zwischenzeitlich auch die Städte Köln, Bonn, Kerpen und Mönchengladbach. Vertreter der Städteregion Aachen tauschten sich in einem persönlichen Gespräch am 23. Februar zudem mit dem belgischen Innenminister Jambon zu Sicherheitsfragen aus. Dieser wies noch einmal darauf hin, dass die gegenüber der deutschen Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks zugesagte unabhängige Expertenkommission zur gegenseitigen Kontrolle eingesetzt werden und Zugang zum Atommeiler Tihange 2 erhalten solle. Zur fachlichen Prüfung zog die Städteregion Aachen den Nuklearexperten Prof. Wolfgang Renneberg vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften an der Universität für Bodenkultur Wien hinzu.
Detlef Seif MdB, der die Klage der Städteregion ausdrücklich begrüßt, gibt allerdings zu bedenken, dass Klageverfahren oftmals viele Jahre dauern und letztlich nicht absehbar ist, wie die Gerichte in der Sache entscheiden werden. Wichtig ist ihm daher, schnell eine europarechtliche Lösung zu finden. Da in der Sache akuter Handlungsbedarf besteht, hat er vor Kurzem den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, gebeten, in der Angelegenheit Auskunfts- und Beteiligungsrechte der Europäischen Kommission geltend zu machen. Bei einem nachweisbaren Verstoß gegen europarechtliche Vorschriften zum Betrieb nuklearer Anlagen muss Belgien zur sofortigen Stilllegung der Anlagen aufgefordert werden und zeitnah letztlich auch ein Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg gebracht werden. Detlef Seif: „ Die Europäische Kommission hat nach den Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAGV) die Befugnis, in gesundheitsspezifische Bereiche der Nutzung von Kernenergie einzugreifen. Es wäre im Sinne aller Betroffenen, die berechtigte Sorgen vor einem nuklearen Störfall haben, wenn Brüssel dem Spuk in Tihange und Doel endlich ein Ende bereiten würde.“
März 2016
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